Seemacht und Sonne

It is well known that the way in which a society makes war is a projection of that society itself.
— Harry Sidebottom [1]

Ein Forschungsprojekt zur Seemachtideologie, Seestrategie und Marinepolitik in der Ära Raeder

Unter dem Arbeitstitel »Seemacht und ›Platz an der Sonne‹. Seemachtideologie, Rüstungspolitik und Seestrategie in der Kriegsmarine unter Großadmiral Erich Raeder. Eine ideengeschichtliche und ideologiekritische Untersuchung« bereite ich aktuell mein in den Jahren 2014/15 erfolgreich fertig gestelltes Magisterprojekt im Hinblick auf eine Veröffentlichung als Buch auf. Dazu überarbeite ich sämtliche Abschnitte und Kapitelstrukturen, werte viele zusätzliche Quellen und Werke aus und nehme umfangreiche inhaltliche und argumentative Ergänzungen vor. Meine Forschungsschrift wurde mittlerweile mit dem Wilhelm-Deist-Preis für Militärgeschichte ausgezeichnet.

Panzerschiff "Deutschland"
Der Bau des neuartigen Panzerschiffs »Deutschland« (hier ein Foto von 1938) drückt den unbedingten Willen der Marineführung aus, eine offensive Hochseemarine als militärisches Fundament deutscher Weltpolitik zu schaffen. [Abb.: Bundesarchiv | CC BY-SA 3.0 DE]

Quellenbasis

Meine Studie fußt auf einem breiten Fundus an Quellen sowie einer umfangreichen Liste an Darstellungen. Dazu zählen auch viele unveröffentlichte und teilweise sehr schwer beschaffbare Werke. Die internationale Recherche der forschungsrelevanten Literatur war dabei vom Gedanken geleitet, eine größtmögliche Thementiefe und Vollständigkeit abbilden zu können. Unter den Quellen befinden sich daher unzählige ungedruckte Akten aus den Beständen des Bundesarchivs, mehr als 100 gedruckte Quellen, Editionen, Primärschriften zur Seekriegstheorie, Geopolitik und politischen Debatte, Erinnerungs- und Rechtfertigungsschriften sowie zeitgenössische Literatur. Mehrere Primärquellen und Darstellungen werte ich erstmals im deutschen Sprachraum aus. Insgesamt umfasst meine Bibliografie zur Zeit beachtliche 50 Druckseiten.

Leseprobe

Extra für diese Webseite habe ich Auszüge aus den inhaltlich-methodischen Vorbetrachtungen aufbereitet und bebildert. Damit können Sie sich selbst einen ersten Eindruck von meiner Forschungsarbeit verschaffen und sich von deren Inhalt und Qualität überzeugen. Dieser Anrisstext umfasst konkret das Kapitel »Thematische Einführung« sowie den Großteil des Kapitels »Forschungsvorhaben und Relevanz«. Um ein flüssigeres Lesevergnügen zu schaffen, werden hier allerdings nur die Quellen direkter Zitate angeführt und zusätzlich einige Termini verlinkt. Sehr gerne sende ich Ihnen diese und weitere vollständige Kapitel mitsamt dem kompletten wissenschaftlichen Anmerkungsapparat gegen eine bescheidene Schutzgebühr zu.

Feedback

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Problemaufriss: Durch Seemacht zur Weltmacht

Die Skala der Weltgeltung der Nationen ist identisch mit der Skala ihrer Seemacht.

Großadmiral Erich Raeder
Erich Raeder (1876–1960) als Großadmiral und Oberbefehlshaber der Kriegsmarine.
[Abb.: Bundesarchiv | CC BY-SA 3.0 DE]

Diese plakative These, wonach eine »Nation« auf globaler Ebene nur so viel Macht und Prestige habe wie sie an »Seemacht« in die Waagschale werfen könne, wird ohne nähere quellenkritische Angaben stets Erich Raeder in den Mund gelegt, dem wegen seines vergleichsweise langen und tief greifenden Wirkens an der Spitze der deutschen Marine einflussreichsten und neben dem charismatischeren Karl Dönitz prominentesten Admiral der NS-Zeit. Tatsächlich entstammt die eingangs zitierte Formulierung einer mit »Deutschlands Teilnahme an der Marinekonferenz 1935« überschriebenen und als »streng vertraulich« klassifizierten Besprechungsunterlage Raeders für eine diesbezügliche Aussprache am 22. Juni 1934 bei Hitler2, an der ebenfalls Reichsaußenminister Freiherr von Neurath und Reichswehrminister Generaloberst von Blomberg teilnahmen. Erstellt hatte das Auftragsdokument Vizeadmiral Freiherr von Freyberg-Eisenberg in seiner Funktion als Leiter der Gruppe für Seekonferenzen in der Marineleitung.

Erich Raeder, der die Marine zwischen 1928 und 1943 mit strenger Hand führte, benutzte diese bedeutungsschwere Denkfigur gegenüber Hitler als Argument, um seine marinepolitische Agenda voranzubringen. Denn während die drei Teilstreitkräfte ohnehin schon erbittert um Ressourcen für ihre immer umfangreicher werdenden Rüstungswunschlisten konkurrierten, tobte auf politischer Ebene auch noch ein seit langem ungelöster Richtungsstreit zwischen den Admiralen, dem Reichswehrministerium und dem Auswärtigen Amt. Dabei ging es um die Fragen, ob und unter welchen Umständen sich das Deutsche Reich an internationalen Flottenvereinbarungen beteiligen sollte.

Vordergründig mag die vom späteren Großadmiral Raeder vertretene Marineführung zwar an mehr (Schlacht-)Schiffseinheiten und dem damit verbundenen Zuwachs an politisch-militärischer Macht und Sozialprestige interessiert gewesen sein. Doch innerhalb dieser deutsch-national, bisweilen reaktionär gesinnten Führungselite repräsentierte gerade die formelhafte Gleichsetzung von »Weltgeltung der Nationen« und »Seemacht« weit mehr. Als »ein geronnenes Substrat von sozialem Sinn«3 steht sie für eine Art tief verinnerlichtes weltanschauliches Glaubensbekenntnis, eine gesellschaftlich wirkmächtig gewordene Ideologie. Insbesondere für Raeders eigenes seestrategisches und machtpolitisches Denken und Handeln stellte sie einen der einflussreichsten Dreh- und Angelpunkte dar. Sie spiegelt in prägnanter Weise eine umfassende politische Philosophie von »Seemacht« und ihrer angeblich ausschlaggebenden Bedeutung für eine prosperierende Entwicklung von Staat, Gesellschaft und Wirtschaft wider. Welt-Machtpolitik und Militärstrategie verschmolzen in ihr zu einem engen handlungsleitenden Beziehungsgeflecht.

Weltmacht und Seemacht, Weltpolitik und Seestrategie sind Einheiten. [Ein gesicherter] Platz am Herrentisch der Nationen [erfordert eine] offensive Strategie.
— Wolfgang Wegener [4]

VAdm. Wolfgang Wegener
Seemacht sei das Produkt aus Flotte und geogra­fi­scher Position, so VAdm. Wolfgang Wegener (1875–1956). Sein Einfluss auf die »Seekriegsleitung« wird aber oft überschätzt, zumal er für Raeder eine persona non grata war. Noch heute wird dieser aggressive Navalist oft unkritisch glorifiziert. [Abb.: Eckhard Wendt / Hans-Ulrich Wegener]

Diese politische Seemachtideologie bildete die ideelle Basis des Navalismus, eines historischen Phänomens, das in den USA, Europa und Japan zwischen etwa 1890 und 1945 seinen größten Einfluss und seine größte Dynamik entfalten konnte, weil deren führende Vertreter aus Politik, Marine, Wirtschaft und Zivilgesellschaft hochgesteckte expansionistische Ambitionen hegten und verfolgten. Der wohl bekannteste und am meisten rezipierte Seemachttheoretiker, geostrategische Schlagwortgeber und Popularisierer einer überseeischen Herrschaftsausdehnung ist bis heute Alfred Thayer Mahan. Auf diesen Captain der U. S. Navy lässt sich der neuzeitliche Navalismus maßgeblich zurückführen.

Der Fachausdruck »Navalismus« beschreibt die maritime Variante eines Militarismus, der aufs engste mit dem Imperialismus seiner Zeit zusammenhing. Man kann ihn gleichsetzen »mit der Forderung nach oder der Umsetzung von einer Politik der maritimen Aufrüstung, welche als Mittel nationalen Aufstiegs dienen sollte und welche die Anforderungen an die Landesverteidigung in den Kontext einer angeblichen Notwendigkeit zur Expansion stellte«5.

Titelseite von Daveluys "Studie über die Seeschlacht" (1904)
Intensiv rezipierte Raeder die Thesen von René Daveluy (1863–1939), eines in Frankreich noch heute gewürdigten Seekriegstheoretikers. [Abb. d. Autors]

»Durch Seemacht zur Weltmacht«6. Um eben dieses goldene Kalb tanzte man nicht zuletzt auch im jungen und aufstrebenden Deutschen Reich. Flotten- und Kolonialbegeisterung, von interessierter Seite regelrecht geschürt, ergriff weite Teile der wilhelminischen Gesellschaft. Doch die großspurigen Träumereien zerplatzten an der Wirklichkeit wie Seifenblasen. Denn bekanntlich schlug der vom kaiserlichen Großflottenbaumeister Alfred von Tirpitz gegen das Britische Empire dirigierte erste Anlauf für eine eigenständige Seemachtstellung fehl. »Der deutsche Griff nach der Weltmacht«7, worauf die in Kaiser-, Weimarer und nationalsozialistischer Zeit immer wieder gerne beschworene Metapher vom »Platz an der Sonne« letztendlich abzielte, scheiterte fulminant. Der Weltkrieg ging verloren. Des Kaisers kostspielige Flotte versank in Scapa Flow und Marineangehörige leisteten sich einen Skandal nach dem nächsten. Das verstärkte die marineskeptische Stimmung in den 1920er Jahren nur noch mehr.

Dessen ungeachtet erlebte das ideologisch überladene Gedankengut der Navalisten unter der Ägide von Marinechef Raeder und im Zeichen des Hakenkreuzes eine regelrechte Renaissance. Doch zu welchen Konsequenzen führte das diesmal in der Marinepolitik, bei der Flottenrüstung und der Seestrategie? Welche Rahmenbedingungen strukturierten das Denken und Handeln der Marineadministratoren und Seestrategen diesmal vor? Welche Rolle spielten dabei die tradierte Seemachtideologie und die Weltmachtfantasien? Erfüllten sie in dieser konkreten historischen Situation möglicherweise sogar bestimmte soziale Funktionen? Und was bedeutete überhaupt »Seemacht« in seekriegstheoretischer und weltpolitischer Hinsicht?

VAdm. Franz Ritter von Hipper, ca. 1916
Raeders seestrategisches Denken wurde durch seinen langjährigen Stabsdienst im Schlachtkreuzergeschwader unter VAdm. Franz Ritter von Hipper (1863–1932) und die in dieser Zeit diskutierte »atlantische Vision« nachhaltig geprägt. [Abb.: Berliner Illustrations-Gesellschaft / Staatsbibliothek zu Berlin]

Raeder wird in Forschungsschriften und in der Populärliteratur zwar gerne als »einer der getreuesten Tirpitzianer«8 und damit als vehementer Anhänger des Schlachtschiffs apostrophiert. Aber laufen die Verschlagwortung vom »Super-Tirpitz«6, die bis heute bemühten komparativen Reihen Mahan – Tirpitz – Raeder und Wegener – Raeder oder bipolare Gegensatzkonstrukte wie Tirpitz vs. Wegener, Dönitz vs. Raeder und »Kreuzerkrieg« vs. »Flottenkrieg« nicht eher auf eine Engführung des ideengeschichtlichen Blickes hinaus? Wenn wir Mahan und Tirpitz einmal außen vor lassen, dann geraten durch die teilweise fragliche, mitunter aber auch interessengeleitete Fokussierung allein auf diese bekannten Personen und Konzepte leicht näher liegendere Einfluss- und Sozialisationsfaktoren Raeders als einer der zentralen historischen Akteure für die deutsche Seestrategie von 1939 und die damit verbundene Rüstungspolitik zu sehr aus den Augen. Was ist beispielsweise mit seinem langjährigen Stabsdienst unter Admiral von Hipper, dem von ihm übersetzten Werk des französischen Seekriegstheoretikers René Daveluy oder den Thesen des viel zitierten »Flottenprofessors« Friedrich Ratzel, des Ahnherren einer verhängnisvoll gescheiterten »Geopolitik« deutscher Prägung? Zweifellos bringt der eingangs zitierte Sinnspruch aller Navalisten nicht nur Raeders politische Sicht auf »Seemacht« sehr gut auf den Punkt, sondern deutet darüber hinaus auch auf eine starke Kontinuität kompatibler weltpolitisch-geografischer Grundannahmen und Deutungsmuster im Rahmen der seestrategischen Arbeit hin.

Das alles umreißt geistes- und sozialwissenschaftliche Problemkomplexe, die es sehr lohnenswert erscheinen lassen, das seestrategische und weltpolitische Denken der maritimen Führungselite in der Ära Raeder aus ideengeschichtlicher und ideologiekritischer Perspektive neu zu erforschen. Es ist an der Zeit, überkommene marinehistorische Deutungsmuster eingehend zu hinterfragen.

 

Erkenntnisziele des Forschungsvorhabens

Mit meiner Studie möchte ich einen kritischen Beitrag zur Erforschung des historischen, aber keinesfalls endgültig überwundenen Phänomens des Navalismus leisten, der mit grenzenlos anmutenden wirtschaftlichen, macht- und rüstungspolitischen Expansionsbestrebungen und letztendlich auch brachialen Imperialkriegen einherging. Am Beispiel der von Großadmiral Raeder geführten deutschen Marine untersuche ich daher das spannende Wechselverhältnis von Seemachtideologie, Seestrategie, Politik und gesellschaftlich-sozialen Faktoren und zwar aus ideengeschichtlicher und ideologiekritischer Perspektive. Dabei erscheint mir eine Konzentration auf den zeitlichen Kontext der unmittelbaren Heraufbeschwörung des Zweiten Weltkrieges ratsam, um spezifisch kriegsbedingte Einflüsse, Erfahrungen und Sonderbedingungen weitgehend ausblenden zu können. Insoweit verortet sich meine Studie im interdisziplinären Themenbereich der neueren, sozialwissenschaftlich orientierten Militär- und Marinegeschichte, aber auch der internationalen Friedens- und Konfliktforschung.

Selbstverständlich kann in einem quantitativ eng begrenzten Buchprojekt nicht in aller Ausführlichkeit auf alle denkbaren Einflussfaktoren und ihre Wechselwirkungen eingegangen werden. Deswegen ist eine geeignete Auswahl zu treffen und zu problematisieren. Erkenntnis leitende Forschungsfragen sind demnach:

(1) Wie sahen die Grundzüge der seestrategischen Konzeption und der ihr zugrunde liegenden expansionistischen Seemachtideologie bei Kriegsbeginn 1939 aus? Das beinhaltet: Wo gab es in der Marineführung relevante Reibungspunkte und Konfliktlinien? Welche soziale Funktion kam dabei dem Narrativ über Welt-See-Macht zu? Und: Inwieweit lässt sich Raeders Seestrategie in eine der beiden miteinander rivalisierenden Traditionslinien – »Kreuzerkrieg« oder »Flottenkrieg« – einordnen?

(2) Das führt zur Frage, aus welchen ideengeschichtlichen Wurzeln und Entwicklungspfaden die Seestrategie der deutschen Kriegsmarine erwuchs. Hier interessieren weniger das kleinteilige Tagesgeschäft, sondern vielmehr übergeordnete Leitbilder der Seekriegstheorie und politisierten Geografie, die das Handeln vorstrukturierten.

(3) Schließlich ist für (1) der marinepolitische Kontext zu klären: In Auseinandersetzung zu welchen wesentlichen politischen, rechtlichen und materiellen Rahmenbedingungen, Erfahrungshorizonten und Mentalitäten entstand dieses seestrategische Wollen?

Hierfür werte ich mehrere Primärquellen und Darstellungen erstmals im deutschen Sprachraum aus und rücke vernachlässigte Teilaspekte wieder in das Blickfeld. Das erlaubt, punktuell neue Argumentationswege zu beschreiten und jahrzehntelang bestimmende Deutungsmuster in der deutschen wie internationalen Marinegeschichtsschreibung herauszufordern. Im Ergebnis lässt sich das Geschichtsbild von Raeder, »seiner« Marine und des 1939/45 gescheiterten deutschen Navalismus weiter ausdifferenzieren.

 

Relevanz für Wissenschaft und Gesellschaft

Einerseits ergibt sich die Relevanz einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Wechselverhältnis von Militärstrategie, navalistischer Expansionsideologie sowie politisch-sozialen Rahmenbedingungen am Beispiel der deutschen Kriegsmarine allein schon aus den oben dargestellten Forschungsdesideraten. Andererseits kann eine solche Untersuchung auch hilfreich sein, um das ein oder andere aktuelle machtpolitische Phänomen zur See besser verstehen und einordnen zu können. Und sei es nur dafür, analytische Anregungen oder historische Vergleichsbeispiele zu liefern.

Titelseite von Mahans Werk "Der Einfluß der Seemacht..." (1898)
Ein origineller Seekriegstheoretiker war er nicht, dafür aber – und das bis heute – der wohl einflussreichste politische Propagandist von Seemacht und imperialer Expansion nach Übersee: Alfred Thayer Mahan (1840–1914), Captain, US Navy. [Abb. d. Autors]

Dass viele internationale Konflikte letzten Endes auch durch die Fähigkeit entschieden würden, gesicherten Zugang zu den wichtigsten Ressourcenquellen und Märkten der Welt zu besitzen, was im Konfliktfall wiederum bedeutet, die Seehandelswege anderen Staaten oder deren wichtigsten Wirtschaftsakteuren verwehren und insofern Macht über See projizieren zu können, gehörte nicht nur zu den zentralen Argumenten der Navalisten und Seestrategen vor 1945. Bis zum heutigen Tage ist diese Idee in internationalen westlichen außenpolitischen und militärischen Strategiezirkeln handlungswirksam – freilich angesichts fortschreitender globaler Vernetzung, militärtechnologischer Entwicklungen und einer bisweilen kritischen Öffentlichkeit in modernisierter Verpackung und mit geringerer Bedeutung von Seemacht als vor 1945.

Von der Aktualität solcher Gedanken zeugt beispielsweise das selbstbewusste Kräftemessen der chinesischen und US-amerikanischen Machthaber in asiatischen Gewässern, vor allem beim Territorialstreit um einige strategisch und wirtschaftlich nicht unbedeutende Inselgruppen im »Chinesischen Meer«, durch das eine der bedeutendsten Welthandelsrouten verläuft. Gleichzeitig liegen sie auch der maritimen Aufrüstung Chinas und seiner auf langfristig stabile Bindungen ausgelegten Rohstoff- und Absatzsicherungspolitik zugrunde. Oder denken wir an das ehrgeizige Projekt »Neue Seidenstraße«, mit dem sich die chinesische Regierung Handelswege und Märkte in Asien, Europa und Afrika infrastrukturell, wirtschaftlich und politisch erschließen will – zu Lande und zur See.

Zudem werden China und Russland nicht müde zu betonen, dass sie eine multipolare neue Weltordnung anstrebten. Der machtpolitische Konflikt mit dem vom US-amerikanischen Imperium dominierten Status Quo ist dabei offensichtlich. Mancher zeitgeschichtliche oder tagespolitische Analyst sieht das chinesische Riesenreich deshalb neben der US-geführten westlichen Militärallianz ebenfalls auf weltmächtigen Mahan’schen Wegen wandeln. Sogar alte Feindbilder, Vorurteile, Spekulationen und Ratschläge des untoten Seemachtideologen leben in diesem Zusammenhang bisweilen wieder auf. An vorderster Stelle das von Mahan auf höchst fragwürdige Art und Weise gezeichnete Schreckgespenst eines unausweichlichen Endkampfes panethnisch konstruierter und »Zivilisationen« genannter Machtblöcke um die Zukunft der vom »Westen« geprägten Weltordnung.

Das alles wiederum deutet darauf hin, dass der machtpolitische und ökonomische Faktor Seemacht in den internationalen Beziehungen keinesfalls in den Annalen der Geschichte versunken ist. Vielmehr erfährt er in einigen Weltregionen gerade eine stärkere Gewichtung. Die autoritäre, an imperiale Einflusszonen erinnernde Option, harte weltwirtschaftliche Konkurrenzsituationen, innenpolitische Verteilungskonflikte und außenpolitische Machtkämpfe mit einer Regionalisierung der Weltmeere und der Weltökonomie, mit navalistischen Strategien und entsprechenden Machtdemonstrationen zu beantworten, kann auch künftig nicht ausgeschlossen werden.

 

Methodisches Vorgehen

Führt man sich noch einmal grundlegende wissenschaftstheoretische Erkenntnisse der Geistes- und Sozialwissenschaften vor Augen, dann stellt jegliche Historiografie »jeweils ein mentales Konstrukt in narrativer Struktur und perspektivischer Begrenztheit«9 dar. Als solches wird es von den Forschungsrahmenbedingungen, den Erkenntnisinteressen und individuellen Voraussetzungen des Autors beeinflusst. Nachdem ich in diesem Bewusstsein im vorangegangenen Unterkapitel meine Forschungsfragen eingegrenzt habe, skizziere ich im Folgenden meine gewählten methodischen Zugänge im Hinblick auf Forschungsansatz und Vorgehensweise

Vorausgeschickt werden muss, dass es stets ein schwieriges Unterfangen ist, Theoriegebäude, Gedankenwelten, den befruchtenden Ideenaustausch unter Menschen, soziale Prägungen und deren Einfluss auf Entscheidungen und konkretes Handeln re- und dekonstruieren zu wollen. Angesichts der Quellenlage müssen wir uns dessen bewusst sein, dass ideelle und soziale Einflüsse selten vollständig nachweisbar sein werden. Deshalb sind wir auf Indizienmodelle angewiesen. Mit Hilfe möglichst multiperspektivischer Quellenkritik und eines nach Motiv- bzw. Ursachebündeln statt nach monokausalen Zusammenhängen suchenden Analyseansatzes sind die Hypothesen oder Befunde nach ihrer Erklärungsmächtigkeit abzuklopfen. Da es immer konkret sozialisierte Menschen und ihre Ideen sind, die handlungswirksam werden können, fließen ganz besonders vergleichende, biografische, diskurs- und netzwerkanalytische Herangehensweisen mit ein. Dabei werden in interdisziplinärer Weise neben militärfachlichen, geostrategischen, navalistischen und politischen Aspekten auch völkerrechtliche, wirtschaftliche und soziokulturelle Aspekte adäquat zu berücksichtigen sein.

Stapellauf des Schlachtschiffes "Tirpitz"
Das größte jemals fertig gestellte europäische Schlachtschiff lief am 1. April 1939 unter dem höchst symbolträchtigen und provokanten Namen »Tirpitz« vom Stapel. Mit dieser Konstruktion brach Deutschland den proklamierten Verständigungsgedanken des deutsch-britischen Flottenabkommens sogar noch vor dessen Paraphierung. [Abb.: Bundesarchiv | CC BY-SA 3.0 DE]

Thematisch ist die Studie folglich in drei Themenblöcke gegliedert. Interne Querverweise werden sich der Sache geschuldet aber nicht vermeiden lassen. Schwerpunktmäßig sind zuerst in Kapitel 2 die ideengeschichtlichen Grundlagen der Teilbereiche Seekriegstheorie, Seemachtideologie und Geopolitik zu beleuchten, bevor in Kapitel 3 der politisch-rechtliche, materielle und soziokulturelle Kontext der Reichspolitik und Flottenaufrüstung in der Ära Raeder 1928–1939 dargestellt wird. Auf beiden Kapiteln fußt Kapitel 4, das die deutsche Seestrategie am Vorabend des Zweiten Weltkrieges behandelt.

 

Anmerkungen

1 H. Sidebottom (2004): Ancient Warfare. A Very Short Introduction. Oxford u. a.: Oxford University Press, S. 35. Sidebottom ist ein britischer Militärhistoriker.

2 Abgedr. in: ADAP, Serie C, Bd. 3.1, Dok. 25, S. 56–60, dort S. 60.

3 R. Pröve (o. J.): Forschungsbegriff vs. Quellenbegriff. [Online im Internet] Berlin: Ralf Pröve, [2013?] [Abruf: 15.06.2018].

4 W. Wegener (1941): Die Seestrategie des Weltkrieges. 2., erw. u. durchges. Aufl. Berlin: E. S. Mittler & Sohn, S. 67.

5 R. Hobson (2004): Maritimer Imperialismus. Seemachtideologie, seestrategisches Denken und der Tirpitzplan 1875 bis 1914. München: R. Oldenbourg (= Beiträge zur Militärgeschichte, Bd. 61), S. 175.

6 M. Salewski (1973): Durch Seemacht zur Weltmacht. War Großadmiral Raeder des Dritten Reiches »Super-Tirpitz«? In: DIE ZEIT, Nr. 50, 07.12.1973, S. 54. Zugl. [Online im Internet] [Abruf: 15.06.2018].

7 M. Epkenhans (1999): Der deutsche Griff nach der Weltmacht. Die Tirpitzsche Flottenplanung 1897–1914. In: Jörg Duppler (Hrsg.): Seemacht und Seestrategie im 19. und 20. Jahrhundert. Hamburg, Berlin, Bonn: E. S. Mittler & Sohn (= Vorträge zur Militärgeschichte, Bd. 18), S. 121–131. Epkenhans greift damit den berühmt gewordenen Titel eines inhaltlich verkürzten Buches des Historikers Fritz Fischer aus dem Jahre 1961 auf.

8 G. Schreiber (1979): Zur Kontinuität des Groß- und Weltmachtstrebens der deutschen Marineführung. In: Militärgeschichtliche Mitteilungen, Bd. 26, S. 101–171, dort S. 116.

9 B. von Borries (2013): Zurück zu den Quellen? Plädoyer für die Narrationsprüfung. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, Jg. 63, Nr. 42–43: Geschichte als Instrument, S. 12–18, dort S. 16.

Abb. im Kopfbereich: Schlachtschiff »Bismarck« vor Blankenese, am Heck die Schlepper »Seefalke« und »Seebär« (1940). Die modernste und stärkste deutsche Kampfeinheit zur See war der in Stahl gegossene Ausdruck des Navalismus der NS-Zeit. [Bundesarchiv (kolorierter Bildausschnitt) | CC BY-SA 3.0 DE]

 

Stand: 15.06.2018

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