Nicht noble Werte wie Demokratie oder Menschenrechte seien ursächliche Motive für außenpolitisches Handeln. Vielmehr seien es stets konkrete, gewichtige und divergierende Interessen von Staaten. Davon war zumindest der vor einigen Jahren verstorbene Altmeister der deutschen Friedens- und Entspannungspolitik, Egon Bahr, zutiefst überzeugt. Bahrs These mag sich zwar ziemlich absolut formuliert anhören. Doch sie macht nachdenklich und schärft den Blick bei der Analyse von unzähligen Interventionen und Sanktionen, Bündnissen und Wirtschaftsbeziehungen.
Über Egon Bahr
Der SPD-Grande Egon Bahr (1922–2015) zählt zu den prominentesten Vordenkern und Mitgestaltern der neuen deutschen Ostpolitik, die von den sozialdemokratischen Bundeskanzlern Willy Brandt (1913–1992) und Helmut Schmidt (1918–2015) sowie ihren FDP-Außenministern Walter Scheel (1919–2016) und Hans-Dietrich Genscher (1927–2016) nach 1969 konsequent verfolgt wurde. Ihr zentraler Leitgedanke für das Verhältnis zum »kommunistischen« Ostblock lautete »Wandel durch Annäherung«. Dieser innovative Ansatz gegenüber dem sowjetischen Systemrivalen bewirkte jedenfalls kleinere Verbesserungen für die Menschen und die Koexistenz beider deutscher Staaten. Dadurch öffneten sich gleichzeitig auch die großen Rohstoff- und Produktionsmärkte des sowjetischen Machtbereichs für die Bundesrepublik Deutschland. Im historischen Bedingungsgeflecht des »Kalten Krieges« hat sich diese Entspannungspolitik als äußerst erfolgreich und strategisch klug erwiesen. Einerseits wirkte sie friedensförderlich, war ökonomisch vorteilhaft und legte wesentliche Grundlagen für die spätere deutsche Wiedervereinigung 1990. Andererseits schuf sie auch den Einstieg in eine verhängnisvolle Abhängigkeit von billigen fossilen Energieträgern aus Russland.
Als eine Art »Elder Statesman« und als langjähriger Weggefährte Brandts blieb Bahr bis zu seinem Tod ein geschätzter Redner. Zu seiner Lebensaufgabe machte er sich die großen Fragen von Krieg und Frieden, Konflikt und Zusammenarbeit, Eskalation und Deeskalation. An den internationalen Beziehungen interessierte ihn daher insbesondere das Verhältnis der Supermächte und ihre Rolle bei der Gestaltung der Weltordnung. Gemeint ist das Verhältnis der westlichen, um die Weltmacht USA gruppierten Mächte zu den östlichen machtpolitischen Akteuren Russland und China.
Bahrs Zitat im Kontext: »Es geht um Interessen«
Über dieses Verhältnis zwischen »Ost« und »West« sprach Bahr auch am 3. Dezember 2013 mit 45 Gymnasiast*innen in der »Reichspräsident-Friedrich-Ebert-Gedenkstätte« in Heidelberg. Die 90-minütige Veranstaltung fand im Kontext der »Willy-Brandt-Lesewoche« anlässlich des 100. Geburtstages des bedeutenden Bundeskanzlers statt.[1] Bahr analysierte tagesaktuell die wachsenden machtpolitischen Spannungen zwischen den Weltmächten USA und Russland (nebst ihren jeweils reklamierten Einflusszonen und Verbündeten). Seine Ausführungen kulminierten in der Bemerkung, »dass wir in einer Vorkriegszeit[2] leben«[3] und ein großer »Cyber War« nicht ausgeschlossen werden könne. Daneben blieb insbesondere der folgende realpolitische Lehrsatz des stets um Frieden bemühten Bahr in Erinnerung[4]:
In der internationalen Politik geht es nie um Demokratie oder Menschenrechte. Es geht um die Interessen von Staaten. Merken Sie sich das, egal, was man Ihnen im Geschichtsunterricht erzählt.
Egon Bahr (2013)
Die offensichtliche Absolutheit und pointierte Zuspitzung seines Urteils könnte einem didaktischen Zweck geschuldet gewesen sein. Als ausgewiesener Zeitzeuge mit vielfältigen außenpolitischen Praxiserfahrungen sprach Bahr schließlich mit wissbegierigen Schüler*innen. Sein Merksatz regt jedoch unabhängig von dieser Überlegung zum kritischen Selbstdenken an. Jedenfalls hilft er, den Blick auf außenpolitische Phänomene und Handlungsmotive zu schärfen. Seien es nun Interventionen und Sanktionen zur Durchsetzung politischer, ökonomischer oder militärischer Ziele oder seien es Bündnisse und Wirtschaftsbeziehungen.
Eingrenzung der Aussagekraft
Ging es in den Internationalen Beziehungen wirklich »nie um Demokratie oder Menschenrechte«, sondern nur »um die Interessen von Staaten«? Ausschlaggebend ist hier die strikte Eingrenzung auf das außenpolitische Handeln und Nicht-Handeln von Staaten, ihren Regierungen und deren Verhältnis zueinander. Gemeint sind beispielsweise nicht soziale Bewegungen oder rein innerstaatliche Konflikte um demokratische und soziale Rechte von Bevölkerungsgruppen.
Beschränkt man den Aussagegehalt auf die entscheidende Ebene der Staatsregierungen und außenpolitischen Vetoplayer, dann scheint Bahrs These in der historischen Rückschau auf den ersten Blick durchaus zutreffend zu sein. Unzählige Beispiele ließen sich dafür finden, von denen einige bekanntere weiter unten kurz angerissen werden sollen. Ein solcher Befund setzt aber voraus, ideologisch geprägte Filterblasen, weltanschauliche Mantras und historische Meta-Deutungen so weit es geht zu vermeiden. Das betrifft Klassiker wie den Marxismus-Leninismus ebenso wie eine einseitig-verzerrende Fallanalyse oder das neue Mantra einer »wertegeleiteten Außenpolitik«.
Bahrs These muss man allerdings auch in anderer Hinsicht spezifizieren. Was sind denn die viel zitierten »Interessen von Staaten« und wer bestimmt sie eigentlich genau?
Im öffentlichen Diskurs ist es natürlich üblich zu abstrahieren und zu vereinfachen, fallweise dadurch auch konkret handelnde Personen zu verschleiern. Daher ist regelmäßig von »Staaten« oder »Deutschland«, »Frankreich«, »die EU« usw. die Rede. Staaten sind ursächlich vom Menschen geschaffene künstliche Konstrukte, die zwar als juristische Person mit Rechten und Pflichten angesehen werden können. Interessen können jedoch nur denkende Subjekte formulieren und durchsetzen und das sind Menschen. Sie agieren bisweilen in diversen und sich partiell überlappenden Strukturzusammenhängen, beispielsweise in »Regierungen«, oder in etwas loser organisierten Menschengruppen.
In unserem Fall sind es zuvorderst die Interessen der Ton angebenden und entscheidungsrelevanten Vetospieler und Gruppen der jeweils betrachteten Staaten. Diese Personen(gruppen) sind wiederum in diverse politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Debattenräume eingebettet. Nach verschiedenen Instanzen der Entscheidungsfindung werden diese Interessen üblicherweise von den Regierungen der Staaten mit ihren jeweiligen Machtmitteln offen, verdeckt oder über internationale Verbünde vertreten. Im Falle des Eingreifens in gewaltsame innerstaatliche Machtkämpfe sind auch oppositionelle Gruppen als mehr oder weniger eigenständige und konkurrierende Akteure analytisch zu berücksichtigen.
Letztendlich sind es also die von mächtigen Politiker*innen und mächtigen gesellschaftlichen Gruppen definierten Interessen, die sich in den internationalen Beziehungen handlungsleitend auswirken. Nichtsdestotrotz können zugkräftige Werte, ideologische Vorprägungen und andere ins Schaufenster gestellte Begründungen für einzelne Akteure real wirksame (sekundäre) Motivationsfaktoren sein.
Es ist daher in jedem Einzelfall zu erforschen, inwieweit wertebasierte Narrative lediglich funktionaler Natur waren, inwieweit sie wen politisch manipulieren sollten und wie sich etwaige Doppelstandards beim Umgang mit mehr oder weniger ähnlich gelagerten Fällen erklären lassen. Das ist das Spannende an kritischer Forschung. Die Motive und Interessen aller Beteiligten müssen stets geeignet gewichtet werden. Sicherlich wird man dann regelmäßig auf Abwägungen von Interessen, Kosten und Nutzen stoßen. Auch überproportionale oder fehlende Aufmerksamkeit für ein Phänomen kann außenpolitisches Handeln oder Nicht-Handeln erklären helfen. Und oft dürften wertebasierte Narrative als ein propagandistisch genutzter Vorwand oder ideologischer Überbau erscheinen, um die Legitimation und Unterstützung des eigenen Vorgehens gegenüber der eigenen Bevölkerung bzw. Gefolgschaft und/oder gegenüber anderen Staaten zu erhöhen.
Fallbeispiele: Demokratie, Menschenrechte, Interessen?
Folgende Fallbeispiele aus der jüngeren Vergangenheit sollen als Anregung dienen, den Merksatz von Egon Bahr selbstständig zu prüfen. Inwieweit geht es dort um Demokratie, Menschenrechte und/oder Interessen – welche das auch immer sein mögen?
- die als »humanitär« verkaufte völkerrechtswidrige Militärintervention der NATO in Jugoslawien 1999 (»Kosovokrieg«) mit später weitestgehender Unterstützung einer Abspaltung des Kosovo
- der völkerrechtswidrige Krieg der USA und ihrer Verbündeten gegen den Irak 2003 mit anschließender Besetzung und Neuordnung des Staatsgebietes
- die umstrittene internationale Militärintervention beim Bürgerkrieg in Libyen 2011
- die russische Intervention im Zuge des pro-westlichen »Regime Change« in der Ukraine seit 2014 mit diversen Völkerrechtsverletzungen wie der Einverleibung der Krim und des Donbas, die schließlich seit 2022 in einen das ganze ukrainische Staatsgebiet umfassenden Angriffskrieg überging
- die selektive Duldung oder Sanktionspolitik westlicher Staaten bei gravierenden Menschenrechtsverletzungen, Demokratiedefiziten, Angriffskriegen und völkerrechtswidrigen Besatzungsregimen, z. B. im Falle von Russland, China, Iran, Nordkorea, Kuba, Venezuela, Türkei, Aserbaidschan, Marokko (Stichwort Westsahara), Saudi-Arabien
- die selektive und diskriminierende Hilfe für Schutzsuchende, bei Flüchtlingsbewegungen oder humanitären Katastrophen, z. B. für Menschen mit oder ohne ukrainischen Pass, die vor denselben russischen Angriffen in die EU flüchten
Endnoten
[1] Vgl. Bericht der Stiftung Reichspräsident-Friedrich-Ebert-Gedenkstätte für das Jahr 2013 (2014). Hrsg. v. Walter Mühlhausen im Auftr. d. Stiftung. Heidelberg: Stiftung Reichspräsident-Friedrich-Ebert-Gedenkstätte, S. 7 u. 33 [Abruf: 31.12.2022].
[2] Aus der Perspektive des Jahres 2022 ist die »Vorkriegszeit« nunmehr großteils Geschichte. Mit Blick auf Russlands Angriffs- und Eroberungskrieg gegen die Ukraine ist von einem offenen Krieg zu sprechen, während auf globaler Bühne ein Weltneuordnungskonflikt ausgetragen wird.
[3] Dieses und alle folgenden Zitate nach Sebastian Riemer (2013, 04. Dez.), Egon Bahr schockt die Schüler: »Es kann Krieg geben«, in: Rhein-Neckar-Zeitung [Abruf: 24.08.2016].
[4] Zitat auch belegt von Süddeutsche Zeitung (2015, 20. Aug.), Egon Bahr: »Verstand ohne Gefühl ist unmenschlich« [Abruf: 31.12.2022].
Überarbeiteter Stand vom 30.06.2024
Ich finde den Artikel sehr hilfreich und kann ihm weitestgehend zustimmen, möchte aber gleichwohl drei Anmerkungen machen:
1. Das Zitat von Egon Bahr (den ich für einen der wichtigsten deutschen Politiker der letzten Jahrzehnte halte) kann so (miss- ?) verstanden werden, als schlössen sich das Eintreten für »Demokratie oder Menschenrechte« einerseits bzw. für die »Interessen von Staaten« andererseit wechselseitig aus. Wenn ich E. Bahrs (und auch Willy Brandts, …) Politik richtig verstehe, wäre das eine zu einseitige Sicht. Ich habe leider nicht die genaue Situation in Erinnerung in der W. Brandt auf eine ihm gestellte Frage mit einem »glasklaren Jein« geantwortet hat. Es kennzeichnet aber in meinen Augen seine Politik garadezu, dass er sich auf vorgegeben Schein-Alternativen nach Möglichkeit nicht eingelassen, sondern nach Wegen gesucht (!!!!!) hat, das Eintreten für Demokratie und Menschenrechte und die Wahrnehmung nationaler Interessen möglichst weitgehend »unter einen Hut« zu bekommen. (Ob/wie weit das immer gelungen ist, ist eine gesondert zu behandelnde Frage.)
2. Nach meiner Wahrnehmung ist die Begründung einer bestimmten Politik mit dem Eintreten für Menschenrechte keineswegs immer nur »propagandistisch genutzter Vorwand oder ideologischer Überbau«. Sie kann von den AkteurInnen subjektiv sehr ernst und ehrlich gemeint sein. Um es an einem aktuellen Beispiel zu illustrieren:
So strikt ich die moralisierende Haltung der gegenwärtigen Außenministerin ablehne (dazu gleich noch mal ausführlicher), spreche ich ihr doch nicht ab, dass es sich da um ihre ehrliche Meinung handelt - was allerdings die mit dieser moralisierenden Sicht verbundenen Probleme nicht aus der Welt schafft.
3. Ich schlage vor, zwischen »wertegeleiteter« und »moralisierender« Außenpolitik zu differenzieren:
- »Wertegeleitete« Außenpolitik sollte sich in der Tat ernsthaft bemühen (!!!), Werte und Interessen auszubalancieren (und sich da an E. Bahr, W. Brandt und Anderen ein Beispiel nehmen).
- Die von der gegenwärtigen Außenministerin bertriebene Politik dagegen erhebt den Anspruch einer moralischen Überlegenheit über alle, die den eigenen Wertvorstellungen nicht entsprechen. Dass diese Position gar nicht durchzuhalten ist, sollte Frau Baerbock spätestens seit der Suche nach Alternativen zu Energieträgern aus Russland dämmern, bei der eine Menschenrechts-Orientierung vollständig unter die Räder geraten ist. (Ähnliches gilt bei der Frage der Waffenexporte etc. etc.) Und dass eine solche Position diplomatische Lösungen zumindest erschwert, oft geradezu unmöglich macht, sollte eine »vom Völkerrecht kommende« »Chef-Diplomatin« eigentlich schon mal gehört haben.
Vielen Dank für Ihre kritischen Reflexionen und Ihre Gedanken anregenden Vorschläge, die ich gerne für eine spätere Überarbeitung bedenke.
In der Tat denke auch ich, dass sich Staaten im Rahmen ihrer Außenpolitik für »Demokratie« und »Menschenrechte« glaubhaft einsetzen können während sie gleichzeitig »nationale Interessen« verfolgen. Werte können, wie ich in der Analyse schreibe, real wirksame Motivationsfaktoren zum individuellen Handeln von einzelnen staatlichen außenpolitischen Akteuren sein. Menschen handeln nicht im luft- und ideenleeren Raum, sondern haben ggf. bestimmte Werte und Ideen, die sie leiten. Die Abgrenzung von einer rein »moralisierenden« Politik finde ich hilfreich.
Doch wie stark charakterisiert Akteur X oder Wert Y das Gesamtergebnis, d. h. wie sind sie zu gewichten? Ist eine wertebasierte Begründung für eine Intervention primär, sekundär, propagandistisch aufgebauscht oder rein funktional und an wen richtet sie sich? Warum entscheidet sich eine Regierung im Fall F1 für Weg A und nicht für eine andere Alternative und im mehr oder weniger gleichwertigen Fall F2 für einen anderen Weg? Inwieweit gibt es Interessen- bzw. Zielkonflikte und was überwiegt im konkreten Fall? Inwieweit gibt es eine ehrliche menschenrechtliche Folgen- und Risikoabwägung vor dem Hintergrund einer vernetzten Welt? In der Gesamtschau geht es m. E. darum, wie (a) ein konkreter historischer Fall und (b) Außenpolitik von bestimmten Akteuren in einem bestimmten Zeitraum unter kritischer Würdigung der Quellen mit größtmöglicher Glaubhaftigkeit und Quellentreue zu erklären, zu interpretieren und zu bewerten ist. Dabei wird man sich oft nur annähern können.
Danke für die Antwort, der ich - zumindest gegenwärtig - nichts hinzuzufügen habe.